Franziska Gürtl

Sociotechnical imaginaries: Eine diskursanalytische Perspektive auf das „Arbeitsmarktchancen-Assistenzsystem“ des AMS

Das Arbeitsmarktchancen-Assistenzsystem (AMAS bzw. „AMS-Algorithmus“) kategorisiert erwerbsarbeitslose Menschen nach ihren prognostizierten Arbeitsmarktchancen in drei Gruppen. AMAS wird seit Oktober 2018 in einer öffentlichen medialen Debatte heftig kritisiert. In meinem Beitrag behandle ich diese Debatte theoretisch aus Perspektive der Science and Technology Studies sowie der Critical Algorithm Studies und methodisch aus Perspektive der wissenssoziologischen und argumentativen Diskursanalyse (Keller 2011; Hajer 2004).
Dabei analysiere ich zum einen, welche sociotechnical imaginaries (Jasanoff 2015) den Diskurs prägen. Es zeigt sich, dass es zwei zentrale Diskurskoalitionen gibt, die konträre Zukunftsvisionen vertreten: AMS-Vertreter*innen imaginieren eine Zukunft der objektiven, effizienten Verteilung von Ressourcen und geringer Arbeitslosigkeit. Demgegenüber stellen kritische Stimmen eine dystopische Vision einer Welt in den Raum, die geprägt ist von diskriminierenden Handlungen eines maschinellen Systems, dem die AMS-Berater*innen nicht zu widersprechen wagen.
Zum anderen betrachte ich AMAS als Dispositiv (vgl. Keller 2011: 258), in welches kontingente institutionalisierte Wissensregime über den Arbeitsmarkt eingeschrieben sind. AMAS ist ein prognostisches System, das anhand von historischen Daten Aussagen über die Zukunft produziert und die Welt damit nach bewährten Wahrnehmungsformen strukturiert. Dabei wird die Zukunftsvision der institutionellen AMS-Perspektive in Form einer Technologie materialisiert. Anschließend diskutiere ich, inwiefern algorithmische Systeme in diesem Sinn als „herrschaftsförmige soziotechnische Erkenntnistechnologien“ (Prietl 2019: 316) verstanden werden können.
Im August 2020 entschied die österreichische Datenschutzbehörde, den Einsatz des Systems zu untersagen. Damit dient AMAS auch weiterhin als Rahmen für die Debatte darüber, welche sociotechnical imaginaries realisiert werden sollen.

Franziska Gürtl

Franziska Gürtl studiert Soziologie und Germanistik an der Universität Graz. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Science and Technology Studies, der Kommunikationssoziologie und soziologischer Praxistheorien. Derzeit arbeitet sie an der Technischen Universität Graz an einem Forschungsprojekt zu den Auswirkungen der coronabedingten Digitalisierung auf die universitäre Forschung, Lehre und Verwaltung mit. Darüber hinaus ist sie am Schreibzentrum der Universität Graz als Schreib-Peer-Tutorin tätig.